Das Buch dieses Sommers war die Biographie der Performance-Künstlerin Marina Abramovic: „Durch Mauern gehen“. Ihre Gedankenwelt hat mich inspiriert, über Körpergrenzen und meine ganz persönlichen Grenzgänge nachzudenken.
Marina Abramovic erforscht die Grenzen menschlicher, und im speziellen, ihre eigenen Bewusstseinsräume. Wieviel Schmerz, Einsamkeit und Grenzüberschreitung ist möglich oder aushaltbar? Die Themen Ausgeliefertsein bzw sich ausliefern spielen immer eine Rolle bei ihr. Mit ihrer Performance im Museum of Modern Art in New York 2010, mit dem Titel „The Artist Is Present“ ist sie einem großen Publikumskreis bekannt geworden.
Für die Dauer von 3 Monaten, genau 736 Stunden saß sie täglich 8 Stunden auf einem Sessel (ohne Unterbrechung, ohne Worte, Essen, Trinken und ohne Klopause) und empfing jeden Menschen der sich ihr gegenüber setzte mit größtmöglicher Präsenz. Es saßen ihr über 1.500 Personen gegenüber, so lange sie wollten (das variierte von 30 Sekunden bis zu 7 Stunden). Ihr eiserner Wille, ihr Durchhaltevermögen und ihre Entschlossenheit, die selbstauferlegten Begrenzungen einzuhalten, haben mich sehr fasziniert. Über Diese Begegnungen schreibt sie: „Ich war da für jeden, der da war. Die Menschen brachten mir ihr ungeheures Vertrauen entgegen, und dieses Vertrauen wollte ich nicht missbrauchen. Sie öffneten mir ihr Herz, und im Gegenzug öffnete ich ihnen mein Herz, ein ums andere Mal. … Meine körperlichen Schmerzen waren eine Sache. Aber der Schmerz in meinem Herzen, der Schmerz der reinen Liebe, war viel größer.“ Bis zum Ende der Performance waren 850.000 Menschen im Atrium gestanden, davon 17.000 allein am letzten Tag.
Marina at midnight: Serpentine Diaries (Video)
Als Masseurin begleitet mich der persönliche Raum und das Grenzenspüren und Grenzenachten täglich. Für mich sind weniger die schmerzhaften Grenzerfahrungen, sondern viel mehr die Fragen wichtig: „Wie präsent bin ich und wie gelingt es mir die Bedürfnisse meiner Kunden und Kundinnen wahrzunehmen und in Verbindung mit ihnen zu sein?“. Immerhin bekomme ich für eine bestimmte Zeitspanne die Erlaubnis zur Berührung und zum Hautkontakt. Mit diesem mir entgegengebrachten Vertrauen gehe ich sehr sorgsam um.
Eine selbsterlebte Erfahrung im „Grenzen ziehen“, die in einem therapeutischen Setting geschah, möchte ich hier beschreiben: In einem Workshop zum Thema Selbstkontakt, Präsenz und Grenzen habe ich gemeinsam mit 19 anderen TeilnehmerInnen eine Übung gemacht, in der ich am Boden saß und um mich herum mit Kreide einen Kreis gemalt habe. Diese aktive Handlung des Ziehens einer Grenze um meinen persönlichen Raum war eine sehr eindrückliche und auch emotionale Erfahrung. Es dauerte einige Zeit und brauchte ein paar Korrekturen der Kreisgröße, bis alle ihren Eigenraum in der passenden Größe gefunden hatten. Die Gruppe wurde darin bestärkt das momentane Körpererleben wahrzunehmen und auch zu beschreiben. Als der Therapeut bei mir war und mich fragte, wie sich mein Raum anfühlt, fiel mir plötzlich ein uralter, immer wiederkehrender Traum ein und es war mir augenblicklich sonnenklar, was dieser bedeutete. Wie auf Knopfdruck wusste ich plötzlich, dass ich in meiner Kindheit zu wenig Schutz, Geborgenheit und Sicherheit erfahren hatte. Es war zugleich eine schmerzliche Erkenntnis und auch Erleichterung, Klarheit über einen rätselhaften Traum zu bekommen, aus dem ich immer mit dem Gefühl von lähmender Angst und ausweglosem Verlassenseinsgefühl aufgewacht war. Nach dieser Übung spürte ich mehr Raum im Brustkorb und ein tieferes Atmen. Dieses Erlebnis hat sich als anhaltende und heilsame Körpererfahrung tief in mein Gedächtnis verankert.
Allgemein gesehen gibt diese einfache Intervention des Grenzenziehens (den persönlichen Raum mit einem Seil oder Kreide zu markieren) Hinweise darüber, wie viel Raum sich jemand zugesteht, ob die Person sich darin eingeengt oder verloren fühlt, wen sie nah an sich heran oder sogar in ihren Raum hinein lässt. Es kann auch direkt erfahrbar werden, wo mehr Abgrenzung nötig wäre oder wo umgekehrt rigide Grenzen (=Mauern) gezogen werden, die ein ein nährendes Geben und Nehmen unnötig behindern.
Unter normalen Umständen haben wir alle ein Empfinden für unsere eigene Körpergrenze. Es ist die Kontaktgrenze vom ICH zum DU, vom Individuum und seiner Umgebung. Dieser „unser persönlicher Raum“ wird als unsichtbare Grenze wahrgenommen, in welchen andere nicht ohne Erlaubnis oder Einladung eindringen können, ohne ein Umwohlsein bei uns hervorzurufen. Dieser Raum hat keine fixe Größe, er ist abhängig vom Gegenüber, unserer Befindlichkeit, dem Kontext und der Kultur.